Praxisbeispiel Fraunhofer IAIS: Chancengleichheit darf im Recruitment nicht aufhören
Kultur ist keine Magie: Wie Chancengleichheit gelingt, zeigt das Fraunhofer IAIS mit zahlreichen Maßnahmen zum Kulturwandel am Institut. Die Leiterin Personalentwicklung, Luise Schneider, erzählt davon im Interview.
Luise Schneider, Sie haben unter dem Motto „Kultur ist keine Magie“ zahlreiche Maßnahmen zum Kulturwandel für mehr Chancengerechtigkeit und -gleichheit im Fraunhofer Institut IAIS initiiert. Was hat es damit auf sich?
Das Fraunhofer IAIS hat in den vergangenen drei Jahren eine Vielzahl an Maßnahmen umgesetzt, um die Anzahl an Einstellungen von Frauen systematisch zu erhöhen und Chancengleichheit im Institut zu sichern. Insbesondere durch eine große und langfristig angelegte „Diversity Campaign“ mit verpflichtenden Unconscious-Bias-Trainings für alle Mitarbeitenden fördern wir den Zusammenhalt und die Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Fraunhofer IAIS. Das trägt essenziell zum positiven Spirit und Miteinander im Institut bei. Viele der Maßnahmen gelten mittlerweile als Best Practice in der gesamten Fraunhofer-Gesellschaft.
Können Sie einige der Maßnahmen genauer beschreiben?
Im Rahmen der Diversity Campaign erhalten alle Mitarbeitenden am Fraunhofer IAIS ein halbtägiges Diversity Training, um Performance Bias, Coping Mechanisms und Vorschläge zum Umgang mit Vorannahmen zu erlernen und zu erproben. Das Training ist für alle Mitarbeitenden des Instituts verpflichtend.
Am Fraunhofer IAIS gibt es eine Vielzahl an Frauen in Führungspositionen, die unterschiedliche Rollenvorbilder sein können: Frauen mit (Klein-)Kindern, die Stabsabteilungen leiten, aber auch Frauen ohne Kinder, die ausgeprägte Karrierewege gegangen sind. Wir alle ermutigen die Frauen im Institut, sich „hineinzulehnen“ und sich ihren Platz zu schaffen. Außerdem haben sich die Führungskräfte dazu entschieden, die gendergerechte Sprache systematisch im Institut einzusetzen.
Was haben Sie im Recruitment umgesetzt?
Objektivität im Recruitment ist uns sehr wichtig: Da die Teilnahme am Diversity Training ohnehin verpflichtend ist, sind alle Kolleg*innen, die an Auswahlprozessen beteiligt sind, über Gender Bias informiert. Darüber hinaus werden die Auswählenden von der Leitung Personalentwicklung und der Recruiting Managerin in gemeinsamen Durchläufen mit Review darin geschult, mit z. T. unterschiedlichem Verhalten von Bewerberinnen und Bewerbern angemessen umzugehen und Leistung möglichst objektiviert zu bewerten. Das Recruitment selbst ist hoch standardisiert, aber gleichzeitig sehr menschlich und zugänglich, so dass Hemmschwellen der Bewerber*innen gesenkt werden. Dieses systematische und dennoch menschliche und verbindliche Vorgehen in den Gesprächen findet sehr positive Resonanz bei den Bewerbenden, die dies häufig explizit zurückmelden.
Schön ist, dass durch die Einstellung einer Recruiting Managerin und durch hoch standardisierte Prozesse die Reaktionszeit auf Bewerbungen deutlich beschleunigt worden ist. Die Recruiting Managerin identifiziert unpassende Bewerbungen und filtert vor, damit gute Bewerbungen sofort sichtbar werden – und kontaktiert diese guten Bewerber*innen unverzüglich. Hierbei wurden immer wieder, sehr erfolgreich, Bewerberinnen mit Potenzial zuerst kontaktiert.
Zudem ist es extrem wichtig, sich klar zu positionieren: Das fängt mit einer auffällig weiblichen Bildsprache und der prägnanten Nutzung des Gender-Sternchens in Broschüren und Anzeigen an, und wird in gezielten Kampagnen weitergeführt: In Stellenausschreibungen des Fraunhofer IAIS und in einer aufwändigen Social-Media-Kampagne unter dem Hashtag #WirSindIAIS wirbt das Fraunhofer IAIS mit dem Slogan »Manchmal geht Familie vor. Wir wissen das.«. In Bewerbungsgesprächen und in unserem Alltag erklären und zeigen wir, dass Kinder willkommen sind.
Allerdings müssen diese Darstellungen auch in der Praxis stimmen. Das haben wir am Fraunhofer IAIS in der Corona-Zeit eindrucksvoll zeigen können: Schnell konnten wir in der Zusammenarbeit auf Homeoffice (mit Homeschooling) umstellen, denn wir waren es schon gewohnt, aufeinander Rücksicht zu nehmen und Lösungen zu finden, die für alle gut funktionieren. Unsere Mitarbeitenden mit Kindern haben sich später sogar für die viele Rücksichtnahme bedankt, weil sie sich aufgefangen und als Teil einer Gemeinschaft gefühlt haben. Natürlich war das Homeschooling und die Betreuung der Kinder immer noch sehr aufreibend, aber es hat schon unheimlich viel gebracht, dass wir uns gegenseitig das Gefühl gegeben haben, auf unsere Lieben – egal ob Kinder oder pflegebedürftige Eltern – achten zu können, ohne dafür komisch angeschaut zu werden oder Nachteile fürchten zu müssen.
Was haben Sie bis jetzt erreicht?
Im Jahr 2019 waren annähernd die Hälfte der am Fraunhofer IAIS eingestellten Personen weiblich, von Januar bis Juni 2020 waren unter den 24 Einstellungen genau 50 Prozent Frauen. Das ist für ein Forschungsinstitut mit Themenschwerpunkt Künstliche Intelligenz sehr beachtlich, denn der Anteil der Absolventinnen unter den für KI relevanten Studienfächern ist gering. Insgesamt hat das Institut einen stetig wachsenden Frauenanteil von aktuell 35 Prozent (Stand Juni 2020).
Wie sorgen Sie dafür, dass das keine einmalige Sache bleibt?
Alle unseren neuen Mitarbeiter*innen müssen durch ein Unconscious-Bias-Training. Chancengerechtigkeit ist für uns auch ein großes, immer wieder adressiertes Thema in der Führungskräfte-Entwicklung. Es wurde durchgehend in allen Modulen thematisiert und am Abschlusstag noch einmal als wichtiger strategischer Anker fast einen halben Tag lang ausführlich bearbeitet – und damit auch formal noch einmal sehr ausdrücklich konnotiert.
In der Fraunhofer-Gesellschaft gibt es zudem ein sehr großzügig angelegtes Frauenförderungsprogramm (TALENTA), an dem in jedem Jahr Frauen des Fraunhofer IAIS teilnehmen. Die Unterstützung ist sehr umfassend. Die Fraunhofer Gesellschaft erlaubt es diesen Talenten, 20 Prozent ihrer Arbeitszeit einzusetzen, um ihre Karriere, ihre Sichtbarkeit zu fördern – und zwar so, wie es für die einzelne richtig ist. Es trifft genau die richtigen: Die Kolleginnen, die sich selber vielleicht noch gar nicht als Champion wahrgenommen haben und dann so gefördert werden, dass sie stark und sichtbar hervortreten – in der Wissenschaftslandschaft und im Institut.
Darüber hinaus zeigen wir die Einstellungsquoten monatlich in der Führungsrunde und haben uns geeinigt, nicht aufzugeben, bis wir einen paritätischen Frauenanteil im Institut erreicht haben. Inzwischen ist es ein richtiger „Wettbewerb“, welche Abteilung es zum Jahresende schafft, viele Frauen eingestellt zu haben. Dies immer vor dem Hintergrund, dass nur ein Bruchteil der Kandidat*innen aus den Fächern wirklich gut passen – und auch immer vor dem Hintergrund, dass wir unsere Kandidat*innen sehr genau auf Passung prüfen. Denn wir stellen „von den Besten nur die Netten“ ein.
Chancengerechtigkeit wird oft von oben gewollt, aber kommt dann doch nur langsam voran. Welchen Tipp geben Sie, damit das Thema wirklich in die DNA jeder Mitarbeiterin und jedes Mitarbeiters kommt?
Es geht darum, Vorbild zu sein. Führungskräfte zeigen, dass sie das Thema Chancengerechtigkeit leben, diskutieren, sich kritischen Fragen stellen. Und es geht um Ergebnisse: Die besten Aussagen helfen nichts, wenn die Ergebnisse sie widerlegen. Das alles ist aber nur dann erfolgreich, wenn das Vorhaben positiv konnotiert ist. Es muss Spaß machen.
Was würden Sie anderen raten, die sich mit diesem Thema gerade auseinandersetzen?
Das ist gar nicht so einfach. Je länger ich darüber nachdenke, desto komplexer erscheint die Antwort. Diese gefühlte Komplexität und Tragweite hemmt natürlich im Handeln. Deshalb rate ich dazu, nicht zu viel nachzudenken, sondern einfach zu machen. Ich rate dazu, mit Mitarbeitenden und Führungskräften in Kontakt zu gehen und einen Grund zu finden, der sie überzeugt, der sie beseelt. Ich finde es wichtig, einen Bedarf für das Unternehmen zu finden, der in die aktuelle Strategie passt. Und dann: einfach loslegen. Das Schöne an Diversity ist ja, dass es im Kern um die Flexibilisierung des Denkens geht. Da sind ein paar Fehler auf dem Weg durchaus Teil der Aussage. Denn Zuhören, Perspektiven anerkennen, Fehler zugeben, Nachsteuern, gemeinsam gestalten: Das alles führt zu einer Öffnung. Dann ist der Weg schon bereitet.